Offener Dialog
Mit Menschlichkeit aus der Krise
Es gibt nicht die Wahrheit, und alle sind Expert*innen
Im Verein LOK wird u.a. mit der Methode des Offenen Dialogs gearbeitet. Dabei geht es um eine Art des Dialogs, in dem alle Stimmen Gehör finden und gleichwertig sind. Dies erweitert die Perspektiven und eröffnet vielfältige Handlungsmöglichkeiten.
Im sogenannten Netzwerkgespräch geht es um Transparenz und das Hören verschiedener Stimmen und Perspektiven im jeweiligen Augenblick. Es gibt kein Bewerten oder Besserwissen, sondern es geht darum, eine gemeinsame Sprache zu finden. Moderiert wird das Netzwerkgespräch durch geschulte Personen. Das Ziel soll sein, Gefühle, Bedürfnisse, Sichtweisen aller Beteiligter wertschätzend zu hören und durch den Dialog gemeinsam Lösungsansätze zu entwickeln und umzusetzen.
Eine Möglichkeit des Umgangs mit akuten psychosozialen Krisen
Krisen, unter anderem auch psychische Krisen sind einschneidende Lebensereignisse.
Was in der akuten Krise passiert und wie sie begleitet wird, hat oft wesentlichen Einfluss auf das weitere Leben. Wege die es ermöglichen von der Akutversorgung/Begleitung zurück in ein „normales“ Leben zu finden ebenso. Die Methode des Offenen Dialogs bietet eine Alternative zum stationären Aufenthalt. Er ermöglicht es Menschen in Krisen, mit ihren Familien, Freund*innen, Kolleg*innen und anderen professionell Helfenden, der Krise in der eigenen Lebenswelt zu begegnen und mit den vorhandenen Ressourcen selbstbestimmt einen Umgang zu finden.
Arbeiten im sozialen Netz
Bei der Methode des Offenen Dialogs wird nicht nur eine Person behandelt, sondern bei Krisen im sozialpsychiatrischen Kontext das gesamte private und professionelle Netzwerk gleichberechtigt in die Gespräche mit einbezogen.
So kann das soziale Netz erhalten bleiben, sich gemeinsam entwickeln und stabilisiert werden.
Abgesehen von schneller, niederschwelliger Unterstützung in Krisensituationen im sozialpsychiatrischen Kontext, kann die Methode auch in anderen schwierigen Netzwerkkonstellationen ein wirkungsvolles Instrument sein, um den Dialog und die Lösungsorientierung zu fördern. Die Herangehensweise eignet sich auch ausgezeichnet für Home Treatment – Projekte.

Wissen
Netzwerkgespräche können hilfreich sein
• Bei schwierigen Entscheidungen/Krisen
• Um unterschiedlichen Sichtweisen zum Ausdruck zu verhelfen
• Wenn Situationen festgefahren wirken
Das Netzwerk
• Besteht aus eingeladenen Teilnehmer*innen, die für das Gespräch hilfreich sein können
• Wird als Netz von Beziehungen verstanden
• Können Familie, Freunde, Betreuer*innen sein
Zwei Moderator*innen
• Unterstützen das Netzwerk ins Gespräch zu kommen
• Achten auf Ausgewogenheit bei den Redebeiträgen
• Stellen Gefühle und Gedanken zur Verfügung

Im Gespräch
Mag.a Karin Kornprobst, Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin ist Mitarbeiterin im Verein LOK und Obfrau des Vereins Offener Dialog Österreich.
Im Gespräch erzählt sie von ihren ersten Erfahrungen und den Entwicklungen mit dem Offenen Dialog.
Erste Begegnungen
Die Methode des Offenen Dialogs ist mir vor vielen Jahren begegnet, es war die Zeit, als ich beruflich im sozialpsychiatrischen Feld tätig geworden bin. Damals als Betreuerin in einer Wohngemeinschaft des Verein LOK, Leben ohne Krankenhaus. Das Kennenlernen der psychiatrischen Versorgungslandschaft in Wien hat mich von da an sehr beschäftigt, da ich den Eindruck hatte, dass hilfesuchende Menschen mit psychiatrischer Diagnose weniger als Menschen in interaktionellen Systemen, sondern vordergründig als Patient*innen mit einer Erkrankung gesehen wurden, die es zu behandeln galt, mit Psychopharmaka, auf einer biologischen Ebene. Meine Beobachtung war, dass bei Aufnahmen im Krankenhaus , nicht mit den PatientInnen, sondern vielfach über sie gesprochen und hinweg entschieden wurde. Da hat meine Suche begonnen, eine Suche nach Antworten auf die Frage, wie eine alternative, integrierte Versorgung mit einer würdevollen Begegnung von Mensch zu Mensch, unabhängig von hierarchischen Strukturen gestaltet werden kann, sowohl im stationären, als auch ambulanten Setting.
Durch Zufall bin ich vor etwa 15 Jahren auf einen Lehrgang zum Offenen Dialog in Wien gestoßen, der all diese Aspekte für mich erfüllte und Antworten auf meine Fragen geben konnte. Leider ist der Lehrgang damals nicht zustande gekommen und es sind erneut einige Jahre vergangen, bis ich die Möglichkeit hatte, einen Lehrgang in Freiburg zu besuchen.
Es war wohl eine der bereicherndsten Ausbildungen, die ich im Laufe meines beruflichen Lebens besucht hatte und unterstützt durch den Verein LOK, Leben ohne Krankenhaus, und zwei weiteren Kolleg*innen, war es mir möglich, die Methode des OD innerhalb der Organisation weiter zu verbreiten und als Angebot für Menschen in psychosozialen Krisen zu etablieren.
Das Netzwerkgespräch
Es gibt viele Anwendungsformen des Offenen Dialogs, die wichtigste davon ist das Netzwerkgespräch. Ein Netzwerkgespräch ist ein Gespräch, welches ca. 90 Minuten dauert und zu dem – von dem*der Klient*in, dem*der Angehörigen weitere private und professionelle Bezugspersonen eingeladen werden. Dies hilft oft bei der Kommunikation untereinander und kann Beziehungen stärken. Durch den offenen Austausch mit anderen Beteiligten entstehen manchmal auch neue Ideen und Perspektiven, die den*die Klient*in auf dem eigenen Genesungsweg unterstützen, oder frischen Wind in scheinbar festgefahrene Situationen bringen. Die Moderation des Gesprächs wird von einem Moderationsteam von 2 Moderator*innen übernommen, welches in der Methode des Offenen Dialogs ausgebildet ist.
Der dialogische Raum im Netzwerkgespräch eröffnet ein miteinander reden, der oft in unserer Kultur und in Beziehungen fehlt. Es ist ein Raum, in dem es um echte Begegnung geht und wo Zeit da ist, um in die Tiefe zu gehen, Verständnis zu entwickeln und um die Worte und Bedeutungen jeder Person im Netzwerk nachzuvollziehen. Noch nie Gesagtes kann ausgesprochen und gehört werden. Dies erweist sich als erstaunlich hilfreich, denn im Gehört und Gesehen werden liegt eine unterschätzte Kraft. Die Moderator*innen versuchen, diesen Raum zu halten, in welchem auch Ängste, Ärger, Konflikte, Schmerzhaftes und Unsicherheit ausgedrückt werden können.
Ein wesentlicher Aspekt des Netzwerkgesprächs ist es auch, keine Lösungen vorzugeben bzw. Lösungsrichtungen zu beeinflussen. Es geht darum, den Boden für Verständigung und sich einfühlen zu schaffen, darauf zu vertrauen, dass das Netzwerk in der Lage ist, den nächsten Schritt zu finden, Ideen zu entwickeln, wie weiterkommen und eine Spur aus der Krise zu finden.
Das methodische Vorgehen ist also ein Wechsel von Fragen stellen, aktivem Zuhören, sich jede Stimme verständlich machen und Antwort geben durch ein echtes Interesse an dem, was jede Person im Raum zu sagen hat. Unterschiede werden transparent gemacht, Subjektivität und Vielstimmigkeit werden als förderlich für den Prozess gesehen.
In den Kinderschuhen
Die Anwendung des Offenen Dialogs in Österreich steckt aus meiner Sicht noch in den Kinderschuhen, im Vergleich zu anderen Ländern wie Finnland, England, Deutschland und anderen europäischen Ländern. Hier gilt es, v.a. was das selbstverständliche Angebot im stationären Setting angeht, noch viel Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Und es ist eine Frage der Finanzierung. In Deutschland z.B. gelingt die Umsetzung der Praxis des Offenen Dialogs im Rahmen eins neuen Finanzierungssystems der „integrierten Versorgung“ und in Kliniken mit regionalem Budget. Ich denke, bereits einzelne Netzwerkgespräche im Rahmen der üblichen stationären oder ambulanten Versorgung können eine entscheidende therapeutische Wirksamkeit haben.
Erste Ansätze der Umsetzung im ambulanten Bereich im Sinne eines Angebotes von Netzwerkgesprächen gibt es in den letzten Jahren in Wien im Verein Windhorse, Verein HPE (Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter), Verein LOK (Leben ohne Krankenhaus).
Weitere Angebote etablieren sich derzeit in der Steiermark (Aufbau eines Moderator*innenpools). Auch selba – die mobile sozialpsychiatrische Betreuung der Chance B wendet die Methode in Netzwerkgesprächen an. Auch der Verein Angehörige helfen Angehörigen beginnen mit der Umsetzung. Netzwerkgespräche werden dabei als ergänzende Intervention bei unterschiedlichen Problemlagen angeboten oder zur gemeinsamen Entwicklung eines abgestimmten Krisenplanes oder Begleitens in Krisen.
Verein Offener Dialog
Der kürzlich gegründete Verein Offener Dialog Österreich hat es sich zum Ziel gesetzt, eine nachhaltige Etablierung des offenen Dialogs in Österreich aktiv voranzutreiben und eine Vernetzung von Menschen und Organisationen, die den offenen Dialog bereits umsetzen zu ermöglichen, auch über die Landesgrenzen hinaus, zu schaffen. Dafür ist es notwendig, möglichst viele engagierte und am Offenen Dialog interessierte Menschen zusammenzubringen und gemeinsam an einer öffentlichen Verbreitung zu arbeiten.
Der Verein Offener Dialog Österreich ist überzeugt davon, dass ein dialogisch orientierter Umgang mit psychosozialen Krisen möglich ist und für alle Beteiligten ein Gewinn sein kann: für die Klient*innen, für die Angehörigen, weitere Bezugspersonen und auch für Professionist*innen, denn sie verändert Team- und Organisationskulturen und erleichtert das gemeinsame Arbeiten mit Menschen in herausfordernden Problem- und Lebenslagen.
Potentiell krankmachende Gesellschaftsstrukturen lassen sich mit dem Ansatz des Offenen Dialoges sicher nicht auflösen. Aber das Gesundheitssystem selbst könnte dadurch eine gewisse Vorbildfunktion für die Humanisierung unserer Gesellschaft und der alltäglichen Sozialen Beziehungen bekommen, denn Veränderung geschieht vor allem durch Begegnungen und Begegnungsmomente.
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