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Das Behindertenleistungsgesetz im Kanton Bern

26. September 2025

Eindrücke einer Bildungsreise in den Kanton Bern in der Schweiz. Über ein zukunftsweisendes Gesetz und deren Umsetzung

Der Kanton Bern stellt auf Subjektförderung um

Vom 7. bis 9. Mai 2025 war eine Delegation aus Wien, VertreterInnen von IVS Wien Organisationen, dem Fonds Soziales Wien und dem Dachverband Wiener Sozialeinrichtungen in Bern, um das 2024 in Kraft getretene Behindertenleistungsgesetz (BLG) unter die Lupe zu nehmen.
Kernstück des neuen Gesetzes ist die Umstellung auf Subjektfinanzierung.

Folgende Ziele des Behindertenleistungsgesetzes wurden vom Kanton Bern formuliert:

Mit dem neuen Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen gibt es im Kanton Bern einen Paradigmenwechsel: Bisher gingen die Gelder des Kantons an die Institutionen. Künftig werden die Leistungen direkt an die Menschen mit Behinderungen ausbezahlt. Damit erhalten die Menschen mit Behinderungen mehr Möglichkeiten, zwischen unterschiedlichen Angeboten und Leistungserbringenden zu wählen. Das Gesetz ermöglicht Menschen mit Behinderungen somit ein ihren Einschränkungen angepasstes, autonomeres und selbstständigeres Leben, schließt Systemlücken und stellt eine effiziente Finanzierung der Assistenzleistungen sicher.

Diese Finanzierungsform entspricht theoretisch dem Grundgedanken der UN-Behindertenrechtskonvention. Aber wie schaut das in der Praxis aus?

Umfassendes Pilotprojekt

Dem Gesetzesentwurf vorangegangen war ein mehrjähriger Pilotversuch. ab 2016 mit 900 Personen die in ihren eigenen Wohnungen leben. Mit einem Bedarfserhebungsinstrument, das mit Betroffenen entwickelt wurde, wurden Menschen mit Behinderungen Leistungen zuerkannt, die sie über eine Web-Applikation (AssistMe) abrechnen können. Am Pilotversuch haben auch Menschen die in Organisationen unterstützt werden teilgenommen.
Die Finanzierung von Leistungen zuhause oder in Organisationen lebenden Personen erfolgt in unterschiedlicher Höhe nach einem festgelegten Normkostenmodell.
Im Pilotversuch hat es keine Vorschriften hinsichtlich der Qualifikation der UnterstützerInnen gegeben.

Die Erfahrungen aus dem Pilotprojekt waren durchaus positiv und wurden im Vorschlag für das Gesetz und die Verordnung aufgenommen.
Nach einem Regierungswechsel im Kanton Bern wurden von der neuen (konservativen) Regierung Verschärfungen bei der Umsetzung des Gesetzes beschlossen. Unter anderem werden vom Kanton nur subsidiär Unterstützungen an Personen geleistet, wenn zuvor alle bundesrechtlichen Ansprüche abgerufen werden. Das gilt besonders für Leistungen der Krankenkasse. Diese Leistungen dürfen nur von entsprechend qualifizierten Pflegekräften erbracht werden.
Eine fast unüberwindbare Hürde für die Behindertenorganisationen in der Umsetzung des BLG.

Einigkeit über den richtigen Weg

Das Interesse der Delegation galt der Umsetzung des Gesetzes aus verschiedenen Blickwinkeln – Betroffene, Politik, Verwaltung und Behindertenorganisationen – und deren Auswirkung auf die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen.

Alle GesprächspartnerInnen waren sich einig darüber, dass das Gesetz im Sinne der Umsetzung der UN-BRK richtig intendiert ist und den Kernelementen des kantonalen Behindertenkonzeptes entspricht

• Selbstbestimmte eigenverantwortliche Lebensgestaltung, stärkere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben

• Individuelle Bedarfsermittlung, Berücksichtigung Möglichkeiten und Ziele der Betroffenen

• Abgeltung des individuell festgesetzten Leistungsanspruchs als Subjektförderung

• Transparente Finanzierungsstruktur, gleiche Abgeltung für gleiche Leistung, bedarfsorientierte Kostensteuerung

Anlauf mit Hürden

Durch die strenge Vorgabe der Subsidiarität kann erst nach Abklärung aller bundesrechtlichen Ansprüche ein Gesuch um Leistungsgutsprache bim Kanton eingereicht werden.
Wurde während des Pilotprojektes die individuelle Bedarfserhebung noch von der Fachstelle individuelle Bedarfsermittlung durchgeführt, wurde diese aus Kostengründen gestrichen und einzelnen geschulten MitarbeiterInnen in den Organisationen übertragen.
Die Bedarfserhebung beinhaltet zum Teil offene Fragen zu den Wünschen und Bedürfnissen zukünftiger Lebensgestaltung im Wohnen, in der Beschäftigung und im Freizeitbereich, als auch stark vorstrukturierte Fragen zu konkreten Unterstützungsleistungen.

Von der Bedarfsprüfungsstelle wird das Ergebnis der Erhebung geprüft, bereinigt und die ermittelten Leistungsstunden werden Leistungskategorien zugeordnet und mit einem Referenzsatz (für die Auszahlung in Franken) multipliziert.

A-Leistungen: Diplomiertes Gesundheits- und Krankenpflegepersonal, Abschluss Studium: 1
B-Leistungen: pädagogisches(agogisches), psychosoziales Fachpersonal, mindestens Lehre: 0,8
C-Leistungen: sonstige Personen (keine facheinschlägige Ausbildung), Angehörige: 0,54

Zugesprochene Leistungsstunden müssen in den festgelegten Kategorien konsumiert werden.

Die Abwicklung von der Anmeldung bis zur Auszahlung läuft über die webbasierte Informatiklösung AssistMe. Eine Supportstelle unterstützt bei Bedarf.

Viel Licht und einiger Schatten

Das BLG ist ein mutiges Gesetz mit den besten Absichten zur größtmöglichen Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen, das in einem partizipativen Prozess unter Einbindung aller vom Gesetz Betroffenen Personen und Organisationen entstanden ist.

Im Pilotprojekt wurden viele Menschen mit Behinderungen versuchsweise umgestellt. Gefühlt zu wenige Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, so dass Schwächen in der Umsetzung eher erkannt hätten werden können.

Die Idee der Subjektförderung mit der freien Verfügung der zuerkannten Gelder für die Unterstützung wird von allen Beteiligten (Betroffene, Politik, Behörde, Organisationen) grundsätzlich positiv gesehen.

Positiv ist auch die Möglichkeit für Menschen mit Behinderungen bis zu 5 Stunden kostenlose unabhängige Beratung hinsichtlich zukünftiger Lebensgestaltung in Anspruch nehmen zu können.

Die strenge Auslegung der Subsidiarität und vor allem der Tätigkeitsvorbehalt von Pflegeleistungen (Krankenkassenleistungen) drängt Behindertenorganisationen dazu immer mehr ursächlich sozialpädagogische Unterstützungen als Pflegeleistungen in einem komplizierten System (Anerkennung als Pflegeeinrichtung) abzurechnen. Das hat dazu geführt, dass bis dato ist noch keine der rund 100 Behindertenorganisationen im Kanton Bern zur Gänze auf die Subjektförderung umgestellt hat, und die geplante Umstellung aller Menschen mit Behinderungen auf das neue Gesetz bis 2027 stark im Verzug ist. Damit sind derzeit aussagekräftige Angaben über gesteigerte Lebensqualität und erhöhter Selbstbestimmung nur in Einzelfällen möglich.

Das Begutachtungsverfahren und die Umrechnung in Leistungen nach Kategorien ist aufwendig und recht starr (Zuerkannte Leistungen bestimmter Kategorien müssen als solche bezogen und abgerechnet werden).

Die Bedarfsermittlung mit KlientInnen durch MitarbeiterInnen der betreuenden Organisation trägt Potenzial zu Interessenskonflikten in sich.

Die Eingabe- und Abrechnungsplattform ASSistMe ist für bestimmte Menschen mit Behinderungen ohne Unterstützung nicht nutzbar.

Und nicht zuletzt zeigt sich die Bedeutung der Politik, die die Rahmenbedingungen vorgibt. In vielen Gesprächen wurde der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass bei den Kantonswahlen 2026 der politische Wind sich wieder dreht, Verschärfungen in der Umsetzung zurückgenommen werden und eine praktikable Umsetzung des Gesetzes möglich wird.

Weitere Informationen

Informationen zum Berner Behindertenleistungsgesetz hier

Information zum Behindertenkonzept Kanton Bern hier

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