Rückblick auf 10 Monate Pandemie aus Sicht der Wiener Behindertenhilfe
Im April 2020 hat die IVS Wien gemeinsam mit AktivistInnen der Selbstbestimmt Leben Bewegung eine Petition für eine diskriminierungsfreie Behandlung von Menschen mit Behinderungen in der COVID-19-Krise gestartet und darin zahlreiche Forderungen von Menschen mit Behinderungen im Kontext der Pandemie formuliert. Höchste Zeit also für eine Bestandsaufnahme darüber, wie die Bewältigung der Krise aus Sicht der Wiener Behindertenhilfe bis dato gelungen ist und wie es mit der Umsetzung der im April formulierten Forderungen steht.
Zum Infektionsgeschehen
Bis Mitte Dezember wurden dem Krisenmanagement des Fonds Soziales Wien 174 Infektionen von KundInnen der Wiener Behindertenhilfe gemeldet. Zu diesem Zeitpunkt gab es 23 aktive Fälle und zwei Todesfälle. Angesichts von über 14 000 FSW-KundInnen mit Behinderungen sind diese Infektionszahlen erfreulicherweise sehr gering, was nicht zuletzt der Kleinteiligkeit der Wiener Behindertenhilfe geschuldet ist, durch die größere Clusterbildungen verhindert werden konnten. Es gab und gibt allerdings einige kleine Clusterbildungen, vor allem in Wohngemeinschaften, in denen es aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich ist, infizierte BewohnerInnen ausreichend von ihren MitbewohnerInnen abzusondern.
Fehlende Quarantänequartiere
Solche Clusterbildungen könnten nur verhindert werden, wenn es für infizierte BewohnerInnen, die in Einrichtungen betreut werden, in denen eine Absonderung nicht möglich ist, passende Quarantänequartiere gäbe, in der eine adäquate Betreuung bis zur Ausheilung der Erkrankungen zur Verfügung gestellt werden könnte. Die Organisationen der Wiener Behindertenhilfe versuchen natürlich alles, infizierte BewohnerInnen in ihrer gewohnten Wohnumgebung weiter zu betreuen. Für die wenigen Fälle, wo das nicht möglich ist, wurde erst mit Dezember 2020 ein Quarantänequartier eröffnet, obwohl seit Beginn der Pandemie klar war, dass ein solches über kurz oder lang notwendig sein wird. Und dieses Quartier steht leider nicht für Menschen mit Behinderungen mit einem höheren Pflegebedarf (ab Stufe 4) zur Verfügung. Selbst bei einem Angebot der betreuenden Organisation, in einem konkreten Fall zusätzlich Betreuungspersonal im Quarantänequartier bereit zu stellen, war keine Aufnahme möglich. Um weitere unnötige Clusterbildungen zu verhindern, ist die MA 15 also dringend gefordert, auch Plätze für Menschen mit Behinderungen und einem höheren Pflegebedarf in einem Quarantänequartier zur Verfügung zu stellen.
Schnelltestungen und Schutzmaterialien
Es ist bis heute leider nicht gelungen sicherzustellen, dass Verdachtsfälle in Einrichtungen der Behindertenhilfe durch Schnelltestungen möglichst rasch abgeklärt werden können. Viele Organisationen haben sich deshalb damit beholfen, eigene Testschienen auf eigene Kosten aufzubauen, weil nur sehr rasche Abklärungen von Verdachtsfällen Clusterbildungen Infektionsketten verhindern können. Immerhin wurde zuletzt erreicht, dass den Organisationen zumindest ein Teil der dadurch entstehenden Kosten ersetzt wird. Obwohl mit den Antigentests die Situation insgesamt ein wenig entschärft wurde, ist es verwunderlich und befremdlich, dass es den Gesundheitsbehörden nicht gelungen ist, eine funktionierende Schnelltestschiene für die betreuenden Organisationen auf die Beine zu stellen.
Gut funktioniert hingegen mittlerweile die Versorgung der Organisationen mit Schutzmaterialien, die über die MA 70 organisiert wird. Hier zeigt sich, dass die Wiener Rettung grundsätzlich krisenfest ist und rasch und effizient arbeitet.
Finanzierungssicherheit
In Sachen Finanzierung ist die positive Meldung des Jahres sicherlich die Erhöhung des Stundensatzes in der Pflegegeldergänzungsleistung von € 16,00 auf € 18,00. Diese Erhöhung deckt zwar nach wie vor nicht den Wertverlust der fehlenden Valorisierung der letzten 11 Jahre ab, stellt aber dennoch eine deutliche Entlastung für die BezieherInnen einer Pflegegeldergänzungsleistung in Wien dar.
Für die Organisationen der Wiener Behindertenhilfe stellt sich die Sache schwieriger dar. Anders als in allen anderen Bundesländern hat sich der FSW dazu entschieden, die Kostensätze für tagesstrukturierende Einrichtungen nicht in vollem Umfang an die betreibenden Organisationen weiter zu bezahlen, sondern bezahlt seit März 2020 lediglich die tatsächlichen Anwesenheitstage, die durch Lockdowns und Ausgangsbeschränkungen in diesem Jahr natürlich sehr gering ausgefallen sind. Der FSW will damit erreichen, dass die Organisationen Mittel aus Fördertöpfen des Bundes im Kontext der Pandemie ausschöpfen um die eigenen Covid-19-bedingten Mehrkosten möglichst gering zu halten. Der FSW hat zwar zugesagt, die Kosten, die nicht über Bundesmittel finanziert werden, über Projektförderungen zu ersetzen, für die Organisationen bedeutet es aber einen sehr großen Verwaltungsaufwand und eine weit in das Jahr 2021 hineinreichende Unsicherheit über die tatsächlichen Erlöse im Jahr 2020.
Einschränkungen von Persönlichkeitsrechten
Im und nach dem ersten Lockdown im Frühling 2020 gab es zum Teil sehr heftige Kritik an der Einschränkung von Persönlichkeitsrechten in Betreuungseinrichtungen. Darauf Bezug nehmend haben sich die Organisationen der Wiener Behindertenhilfe im Rahmen des Dachverbands der Wiener Sozialeinrichtungen auf Leitlinien geeinigt, mit denen die Wahrung der Persönlichkeitsrechte auch unter Lockdown-Bedingungen sichergestellt werden soll.
Aufgrund der Erfahrungen im Frühling und dem ausdrücklichen Wunsch vieler KlientInnen blieben auch alle Wiener Einrichtungen der Tagesstruktur im November und Dezember 2020 zumindest in einem Notbetrieb geöffnet und bleiben dies auch weiterhin.
Zusammenfassung und Ausblick
Angesichts der oben genannten Zahlen und der für alle Beteiligten völlig neuen Herausforderungen können wir als Organisationen der Wiener Behindertenhilfe durchaus zufrieden mit unserem bisherigen Management der Pandemie sein. Die Kleinteiligkeit und Flexibilität der Einrichtungs-Landschaft hat sich einmal mehr als Stärke und großer Vorteil erwiesen. Die Gefahr, gerade deshalb unter der politischen und medialen Wahrnehmungsgrenze zu bleiben, bleibt aber ebenfalls bestehen, weshalb es notwendig bleibt, immer wieder auf unsere Forderungen aufmerksam zu machen.
Aktuell sind das vor allem:
• Plätze in Quarantänequartieren auch für Menschen mit hohem pflegerischen Unterstützungsbedarf
• Möglichst rasches Angebot von Impfungen für Menschen mit Behinderungen, die einer Risikogruppe angehören, Persönlichen AssistentInnen und MitarbeiterInnen der Behindertenhilfe. Es muss sichergestellt werden, dass auch für Menschen mit Behinderungen, die nicht institutionell betreut werden, ein Impfangebot zur Verfügung gestellt wird
• Garantierte Übernahme von Covid-19-bedingten Zusatzkosten und Sicherstellung der dauerhaften Finanzierung der bestehenden Angebote durch die Fördergeber.
• Es sind immer noch keine VertreterInnen von Menschen mit Behinderungen in den diversen Krisenstäben der Stadt Wien zur Pandemie vertreten. Wäre dies der Fall, könnten viele Fehler von vorneherein vermieden werden.
Robert Mittermair
Sprecher IVS Wien